Zurück bei dir
von
Als ich dich an einem regnerischen Januarabend am Bahnhof von Thörishaus Dorf wieder sehe, Du mich an deine Daunenjacke drückst, mich anstrahlst mit deinen wasserblauen Augen, grüner Strich unter den Lidern, und mit deiner kräftigen Stimme «hallo Sämi» sagst, ist es geschehen. Ich bin eingetreten in eine Welt, die ich vor vielen Jahren verlassen hatte und die mir bis vor wenigen Minuten nur noch schemenhaft in Erinnerung war.
«Hallo Anja!»
Dort sind wir mit dem Töffli durch die Gegend getuckert, haben auf dem Sportplatz die Fussballer angehimmelt, uns an Dorffesten mit Gummibärli betrunken. Die Welt gehörte uns. Damals waren wir beste Freundinnen, du und ich. Wir teilten die erste Verliebtheit, den ersten Liebeskummer. Das erste Smirnoff, den ersten Joint.
Wir haben uns das erste Mal zusammen die Beine rasiert. Ich schlief bei dir, als dir deine Mutter noch Honigmilch ans Bett brachte.
Dann habe ich dich verloren, Anja. Fast zehn Jahre ist das her. Es gab keinen Streit, kein Zerwürfnis, nicht einmal Gleichgültigkeit. Fast lautlos habe ich mich von dir entfernt, wir haben es selbst kaum bemerkt. Während du geblieben bist, ging ich immer weiter von dir fort. Bern, Basel, Berlin, Buenos Aires. Ich wollte viel und habe vieles bekommen. Neue Sprachen gelernt, mit dem Rucksack durch fremde Kontinente gereist, Auslandssemester gemacht, Praktika in verschiedenen Städten, mein eigenes Geld mit Nebenjobs verdient. Freunde auf der ganzen Welt gefunden. Und jetzt, während ich geradewegs auf die Dreissig zusteuere und mich frage, wo mein Zuhause ist und womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen will, musste ich an dich denken.
Du wusstest immer, wo du hingehörst. Weisst du es immer noch?
Heimat
Die Annäherung beginnt am Samstagabend, 21. Januar, mit einer WhatsApp:
Hallo Anja, jetzt bist du schon Dreissig und wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ist das noch deine Nummer? Grüessli, Sämi
Als Du die Nachricht bekommst fängst du an, wild in deiner Wohnung herumzuflitzen. Die Augen weit aufgerissen, wie die einer fauchenden Katze, posaunst du durch die halbe Welt, dass Sämi sich gemeldet hat. Deine beste Freundin von damals. Nach so vielen Jahren. So wird es mir dein Freund später erzählen. «Sie war an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen.»
Du schreibst am nächsten Tag zurück.
Hallo liebs Sämi, ja das ist meine Nummer. War gestern am Barstreet-Festival mit Leuten, die du auch noch alle kennen würdest von früher. Wo bist du Zuhause?
Ich beginne von Stuttgart zu erzählen, meinem aktuellen Wohnort, und Basel, bald mein neues Zuhause. Aber dass ich auch nach Bern kommen werde, meine Familie wohne ja dort, und dann könnten wir uns wieder sehen.
Oh Stuttgart, schreibst du und erzählst, dass auch Du bald umziehst, in einen Weiler im gleichen Dorf. Ich könnte nie von Zuhause weg. Muss meine Familie mindestens dreimal die Woche sehen, sonst bekomme ich Heimweh. Ich liebe meine Heimat.
Ich liebe meine Heimat. Dieser Satz löst bei mir normalerweise Gänsehaut aus, gehisste Schweizerfahnen und SVP-Parolen schwirren durch meinen Kopf. Doch heute, inmitten von meinen Zügelkartons, finde ich es wohltuend, dass wenigstens du weisst, wo deine Heimat ist. Wenige Tage später steige ich am Bahnhof von Thörishaus Dorf in deinen grauen Opel Corsa.
Wir fahren die Freiburgstrasse hinunter, vorbei an der «Dorfchäsi», vorbei an der Tankstelle, vorbei an deinem früheren Zuhause. Ein graues Haus mit hölzernen Fensterläden, direkt an der Hauptrasse, links. Durch das Küchenfenster sehen wir deine Mutter im roten Pyjama. Fast alle wohnen noch da, erzählst du. Mama, Papa, Cousin, Cousine, Tante, Onkel, die jüngere Schwester mit ihrem Mann, bald gibt es Nachwuchs. Das Grosi ist verstorben. Der Äti dement. Ansonsten ist alles wie früher.
Wir fahren in einen Kreisel, die Freiburgstrasse mündet in die Austrasse, und Thörishaus wird zu Neuenegg. Drei Minuten später erreichen wir dein neues Zuhause. Ein weiss verputztes, dreistöckiges Haus direkt an der Hauptstrasse links. Dahinter steht deine Primarschule in Pantoffeldistanz.
Die Dachwohnung ist hübsch. Cremeweisse Holzbalken, dunkle Ledersofas um einen Flachbildfernseher, dazwischen leuchtet das Grün der Zimmerpalmen. Alles ist ordentlich, alles picobello aufgeräumt. Nur auf dem Esstisch welkt ein müder Christstern. Du tischst selbstgebackene Züpfe auf, Gürkli, Käse aus der Chäsi, Cherry-Tomaten und Radieschen. Wir trinken Rivella blau.
Während du unentwegt erzählst, weil du Stille nicht ertragen kannst, von deinem Schatz, mit dem du seit sechs Jahren ein Paar bist, deiner Leidenschaft fürs Kochen und deinem letzten Ausgang am Barstreet-Festival, schaue ich dich an. Das blonde, beinahe weisse Haar fällt noch genau gleich wie früher. Leicht gewellt, engelsgleich.
Ich denke an unseren ersten Urlaub ohne Eltern. Zarte 16, zwei Wochen Lloret de Mar. Schaumpartys, Urlaubsflirts, Longisland Ice Tea, stundenlanges Bräunen an der Sonne mit UV-Schutz 15. Das bedeutete Glück für uns.
Anja, was ist aus uns geworden?
Du: Verkäuferin in einem Schmuckladen seit acht Jahren. Zufrieden dort.
Ich: Freie Journalistin seit einem Jahr. Unsicher dort.
Du sagst: «Journalistin ist der letzte Beruf, der für mich in Frage gekommen wäre. Noch heute muss ich manchmal überlegen. Freuntlich oder freundlich? wider oder wieder?»
Wir lachen. Dabei rümpft sich deine schmale, schwungvolle Nase.
Dann fangen wir an, uns an früher zu erinnern, dort, wo alles begann.
Bleiben, gehen, bleiben
Erstmals kreuzten sich unsere Wege im jenem Sommer kurz vor der Jahrtausendwende. Ich war zwölf Jahre alt, Du würdest bald dreizehn werden.
Du, Tochter eines Konditors und einer Serviceangestellten, geboren im Oktober 1986 in Thörishaus, ein langgezogenes Dorf südwestlich von Bern, 1026 Einwohner, aufgewachsen im oberen Stock eines zweistöckigen Hauses. Unten lebten die Tante und der Onkel, gegenüber die Grosseltern. Vor dem Eingang führt eine Steinbrücke nach Fribourg, darunter rauscht die Sense talabwärts.
Ich, Tochter eines Musiklehrers und einer Krankenschwester, geboren im Juni 1987 in Bern, verbrachte mein erstes Jahr in einem Blockhaus am Stadtrand, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Bis ich dich kennenlernte, waren wir bereits sechsmal umgezogen.
Wir kommen beide aus einfachen, sogenannten bildungsfernen Familien. Mit dem Unterschied, dass deine Familie dort blieb, wo sie herkam. Während sich meine auf die Suche nach einem anderen Leben machte.
Eine Weile wohnten wir auf dem Campingplatz in Thörishaus, Dauercamper, jeweils von Frühling bis Herbst. Deine Familie wohnte direkt am Eingang zum Campingplatz. Du gingst auf die Realschule im Dorf, ich besuchte die 20 Kilometer entfernte Rudolf-Steiner-Schule. Trotzdem sahen wir uns fast täglich.
In jenem Sommer 1999 haben wir gegeneinander Fussball gespielt, an einem Grümpelturnier im Dorf. Ich bei den Verlierern, Du bei den Starken.
Anfangs mochte ich dich nicht. Du warst angeberisch, rauer Ton, laut und schnell. Hübsch warst du schon damals. Fülliger Körper, Pfirsich-Teint, und eben, die blauen Augen, das Engelshaar. Durch gemeinsame Kameraden kreuzten sich unsere Wege immer öfters, und bald mochte ich deinen Schalk, deinen Tatendrang. Nach der Schule hast du mich oft mit dem Töffli abgeholt und auf den Dorfplatz gefahren, wo wir Nachmittag für Nachmittag mit Red Bull und Chips verstreichen liessen. Schliesslich ging ich auf deine Schulparties, Cola-Cola löffeln, Flaschendrehen, Slowdance zu Ricky Martin. Irgendwann fuhr ich mit deiner Klasse ins Skilager, deine Lehrer kannten mich beim Namen.
Es war nicht so, dass ich in meiner Schule keine Freunde hatte. Aber irgendetwas zog mich mit aller Kraft in die Welt, in der du lebtest. Ich ging auf eine Schule, deren Fächer ich nicht alle erklären konnte und die auf Noten verzichtete. Ich wohnte auf dem Campingplatz. Ich ass kein Fleisch. Der Alltag von dir und deiner Familie dagegen verkörperte für mich das, was ich mir damals am meisten wünschte: ein normales Leben.
Ich wäre gerne bei dir geblieben, liebe Anja, im Dorf. Doch es kam anders. Wir zogen an den Stadtrand, ich ging aufs Gymnasium, fand neue Freunde, fing an zu grübeln, zu demonstrieren, wollte die ganze Welt erforschen und dachte, ich könnte sie gerechter machen.
«Dann bist du nach Südamerika», sagst du. «Das ist für mich was-weiss-ich wo! Danach bist du weg aus Bern. Und ich bin halt nicht der Typ, der allen hinterher reist.» Spätestens als ich anfing, Ethnologie und Medienwissenschaften zu studieren, hatten sich unsere Wege in gänzlich anderen Sphären verloren.
«Aber ich war mir sicher», sagst du, «irgendwann kommst du zurück.»
An einem Februarwochenende spazieren wir an der Sense, die gleiche Runde wie früher, Camping, Sportplatz, Maisfeld, Campingplatz. Die Luft ist nicht mehr kalt, aber noch nicht warm, unter unseren Füssen knirscht der Kies. Was hast du gemacht die letzten zehn Jahre, Anja?
«Ich wollte einfach ‹bügle›, Sämi. Was, war mir egal.» Du bläst den Rauch einer Marlboro Gold hörbar in einer geraden Linie nach oben. Mir fallen deine perfekt lackierten Nägel auf, heute hellrot.
Früher wolltest du Lastwagenfahrerin werden. Das fand ich cool, ich habe es allen Freunden an meiner Schule erzählt.
Anja, meine Freundin aus dem Dorf, die hübsche Kleine, wollte in eine Männerdomäne eintreten. Aber daraus wurde nichts. «Es gibt kaum Lehrstellen für Frauen», sagst du.
Stattdessen hast du dich zur Detailhandelsfachfrau in einem Eisenwarengeschäft ausbilden lassen. «Ich konnte dort alles verkaufen, auch Werkzeuge.» Danach bist du in die Gastronomie gerutscht, Hirschen, Löwen, Sternen, nie mehr als zehn Kilometer von deinem Zuhause entfernt. Bis dich irgendwann ein Stammkunde für den Schmuckladen anheuerte, in dem du noch heute arbeitest.
«Ich habe nie weit gedacht, Sämi.»
Viele Menschen, sagst du, machen sich so viele Gedanken. Aber wozu?
«Weisst du Sämi, ich habe oftmals Mühe mit diesen Menschen.»
«Mit welchen?»
«Studierten.»
Meint sie mich?
«Die denken, sie seien etwas Besseres.»
Und du beginnst du erzählen: Von der Party, auf der du jemanden getroffen hast, der in Nepal half, Häuser wieder aufzubauen. Toll, hast du gesagt, ihm auf die Schulter geklopft. Und jetzt hast du die Welt gerettet? «So ein Blöffsack», raunst du und reisst die Augen weit auf, wie immer, wenn du dich aufregst. «Da habe ich mehr Respekt vor den Büezern aus unserem Dorf, die sich jeden Morgen den Arsch aufreissen.»
Wenn Du solche Geschichten erzählst, entfährt dir oft ein lautes «Pfff». Du kennst viele dieser Geschichten.
Zum Beispiel das studierte Mädchen, die bei dir im Schmuckladen aushalf. «Die hatte noch nie in ihrem Leben richtig gearbeitet.» Zwei Tage die Woche und sie war überfordert. Trotzdem ging sie auf Reisen und kaufte sich teure Kleidung. Das Geld dafür zog sie ihrem Vater aus der Tasche, der laut Deinen Aussagen ein armer Arbeiter war. Pfff. «Schämst du dich eigentlich nicht?» hast du das Mädchen zur Rede gestellt.
Oder die Freundin deines Cousins. Sie stelle sich immer als die Schlauere von Beiden hin. «Die gibt mir und meiner Familie zu spüren, dass wir weniger Wert sind.» Pfff.
Ich wage nicht zu widersprechen. Höre meine neuen Freunde über «Landeier» oder «Bauern» schimpfen und frage mich, wie viele der sogenannten «Büezer» in meiner Lebenswelt überhaupt vorkommen. Ist sie das, die Klassengesellschaft, von der in der Schweiz behauptet wird, wir hätten sie längst überwunden? Ich schäme mich ein wenig für das sogenannte Bildungsbürgertum und bin auf einmal froh, dass ich lediglich den Bachelor in der Tasche habe. Ich habe ihn selbst finanziert, weil meine Eltern es nicht konnten. Um nicht als eingebildete Göre abgestempelt zu werden, erzähle ich dir ausführlich von meinem Nebenjob als Kellnerin und lasse die Studieninhalte allesamt unter den Tisch fallen.
«Es gibt auch Ausnahmen», beschwichtigst Du. Der Freund deiner Cousine zum Beispiel. Oder ich. «Du kommst aus einer einfachen Familie, das merkt man dir eben an.» Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass dieser Satz als Kompliment gemeint ist. In den vergangenen Jahren hatte ich mir manchmal gewünscht, mit meinen Eltern mehr politisch debattieren zu können, über Bücher zu sprechen anstatt über Filme, oder dass sie mehr von einer Zeitung kennen als meine Artikel.
«Das geniesse ich an meiner Familie», sagst Du, «dass sie so einfach ist.» Ich beschliesse, fortan genauso über meine Familie zu denken.
«Bei uns musste niemand an die Uni, Sämi. Wir waren frei.»
Deine Schwester ist Schreinerin.
Deine Cousins sind Autoverkäufer und Maurer.
Deine Cousine machte eine Lehre bei der Landi. Die andere fängt bald bei der Migros an.
Und dass Bildung mehr Möglichkeiten eröffnet? frage ich dich.
«Und was soll ich dann damit?»
In der Welt in der ich lebe, urban, gebildet, kosmopolitisch, hat man sich irgendwann darauf geeinigt, dass mehr Möglichkeiten auch mehr Freiheit bedeutet. Warum sieht mein Leben an diesem idyllischen Ufer der Sense, nur 15 Kilometer von der Stadt Bern entfernt, auf einmal so anders aus? Vielleicht bin ich durch meine Bemühungen nichts weiter als ein Durchschnittstyp der Generation Y geworden: zwischen 1980 und 1999 geboren, laut Definition gebildete, hinterfragende und stets vernetzte Menschen, deren Leben keine gerade Linie zeichnet.
Ich glaube sogar, ich bin in den letzten Jahren kaum Menschen wie dir begegnet. Das erschreckt mich – und macht mich etwas traurig.
Was genau habe ich jetzt davon? Du jedenfalls weisst nichts von einer Generation mit diesem Namen. Weil sie absolut nichts mit deiner Lebensrealität zu tun hat. Dich interessiert weder Facebook noch das Weltgeschehen. Und du lebst damit in Frieden. Während ich mich trotz täglicher Zeitungslektüre davor fürchte, nie informiert genug zu sein. Die Gespräche mit dir an diesem durchzogenen Februartag geben mir mehr denn je das Gefühl, in meiner vermeintlich offenen Welt in einer Blase zu leben.
Hundsverlochete
Später am Abend sitze ich wieder in deiner Wohnung. Wir trinken Chaitee-Likör, cremige Süsse rinnt durch meinen Hals. Eigentlich trinke ich mittlerweile lieber Whiskey, sage aber nichts. Ich will diesen Moment nicht verderben, der sich anfühlt, als wäre keine Zeit verstrichen. Im Hintergrund klingt Shakira aus den Boxen, das Lied, das ich dir immer vorgesungen habe.
«Weisst Du noch, Sämi?»
Nein, ich hatte es vergessen. Doch jetzt formen meine Lippen wie von selbst die richtigen Wörter zur Melodie. Underneath your clothes, there’s an endless story. Die Vergangenheit scheint auf einmal zum Greifen nah.
«Sämi, ich glaube, ich habe mich gar nicht verändert.»
Am liebsten gehst du noch immer in den Ausgang, «i jedi Hundsverlochete.» Im Sommer an Festivals, im Herbst an Oktoberfeste, im Winter an die Fasnacht. Dazwischen an das Barstreet in Bern oder in den Schlagertempel, Autobahnausfahrt Kirchberg. «Komm doch auch mal mit!»
Bald, sagst du, willst du mit deinem Schatz eine Familie gründen, zwei Kinder grossziehen und den Haushalt schmeissen. Nicht wegen des Klischees, einfach, weil es dein Wunsch ist. «Ich koche gerne, ich backe gerne, ich habe gerne Ordnung.» Ab und zu grosse Apéros veranstalten, das gehöre natürlich auch dazu. «Einfach ein ganz normales Leben führen.»
Bei diesem Satz möchte ich dich am liebsten umarmen. Vor lauter Freude endlich wieder gefunden zu haben, was ich längst verloren glaubte, vergraben unter dem Lärm der Welt und meinen eigenen Zweifeln. Das normale Leben.
Doch es gibt ein Problem bei meiner Rückkehr. Ich füge mich nicht mehr so geschmeidig in deine Welt ein wie damals. Überall lauern Ecken und Kanten, die wir als Kind spielerisch wegwischten und die jetzt, zehn Jahre später, irgendwie zu drücken anfangen. Früher hat sich unsere Freundschaft auf dem simplen Fundament aufgebaut, gemeinsam Spass haben zu wollen, ohne an morgen zu denken. Heute fühlt es sich an, als müsste ich zuerst den verlorenen Code für deine Lebenswelt knacken, ehe ich den Weg hinein finden kann.
Von Aussen hat sich wenig verändert. Du sagst, ich sehe noch genau gleich aus wie früher. Deine Eltern, deine Schwester, deine Cousins und Freunde von damals, alle sind sich einig. Genau gleich. Nur dein Freund, der mich erst kürzlich kennenlernte, ist skeptisch. «Wer bist du eigentlich?», fragt er mich an der Berner Fasnacht, zu der ich zugegeben nur Dir zuliebe gekommen bin. Diese Welt mit Kafi-Fertig, Guggenmusik und Piratenhüten ist mir irgendwie fremd geworden. Zu laut, zu grob, zu besinnungslos die Trinkerei. Ich schaue deinen Freund fragend an, sein trainierter Körper steckt in einem Hundekostüm. «Ich dachte, ich treffe eine bodenständige, vorlaute Frau. So wie Anja», fährt er fort. Stattdessen stehe jetzt eine reflektierte, ausgeglichene, ja, zurückhaltende Journalistin vor ihm. Ich solle das nicht falsch verstehen, es sei ihm eine Riesenfreude, mich endlich kennenzulernen. Aber die Frau, die er aus Anjas Geschichten kannte, die vor keinem Seich zurückschreckte - und die, die nun vor ihm stehe: «Das bringe ich einfach nicht zusammen.»
Ich schaue auf die grölende Menge in dem Konfetti-Matsch. War ich das jemals? Hattest Du, Anja, womöglich Recht, und ich halte mich gerade für etwas Besseres, meine Trinkpartys für zivilisierter? Und wenn dem so ist, wer hat eigentlich gerade mehr Spass am Leben? Verzeih mir Anja, ich bin weit gereist. Und nun kann ich mit der einfachsten Welt nicht mehr Schritt halten. Aber ich bewundere sie noch immer, bewundere dich. Auch hier und heute, wie du selbstbewusst und ausgelassen im Schweinchenkostüm zu Rivers of Babylon tanzt, Zigarette und Holdrio in der Hand. Wie glücklich du aussiehst. Während ich schlotternd in Jeans und Pulli daneben stehe und bereue, das Rauchen aufgegeben zu haben.
Und dann habe ich uns auch noch den Abend in der Dorfpizzeria verdorben. Ausgerechnet an jenem ersten Frühlingstag, an dem sich das Leben und unsere Freundschaft gerade wieder so leicht anfühlten. Wir haben uns mit Tamara verabredet. Sie ging mit dir zur Schule und war die Dritte in unserem Freundschaftsbund. Wie oft sind wir nachts heimlich aus dem Haus geschlichen, die Jacke über das Pyjama, eine Mütze über den Kopf, stiegen wir durch das Fenster und streiften um die Häuser. «Gangstern» nannten wir diese Ausflüge. Sie endeten meist harmlos, es ging uns nur um den Kick des Heimlichen.
Während ich mich aus dem Staub gemacht habe, ist Tamara deine Freundin geblieben. Auch ihr Aussehen hat sich kaum verändert. Die gleichen niedlichen Hamsterbacken, die riesengrossen blauen Augen. Sie hat sich damals zur Friseurin ausbilden lassen. Heute führt sie einen eigenen Salon, lebt mit ihrem Traummann in ihrer Traumwohnung mit Sicht auf die Gantrischberge, und um das alles perfekt zu machen, eröffnet sie uns heute, dass sie schwanger ist. Wir reden über das Kinderkriegen und heiraten, und ihr hört mir fassungslos zu, wenn ich euch von einer App Namens Tinder erzähle. Und dann, als wir gerade so richtig satt und zufrieden sind, komme ich mit jener Frage, die diesen Abend zerstören sollte: interessiert ihr euch für Politik?
Obwohl es sich schon früher abzeichnete, wollte ich deine rechte Einstellung nicht wahrhaben, Anja. Du mit deinem Sinn für Gerechtigkeit, die sich früher für alle Mobbingopfer der Klasse einsetzte.
«Ich stimme nie ab, ausser es geht um Ausländer.»
Und was stimmst du da?
Schweigen.
«Weisst du Sämi, wir auf dem Land haben eben eine etwas andere Meinung zu Flüchtlingen als ihr in der Stadt», beginnt Tamara vorsichtig zu antworten.
Ihr sagt, ihr mögt halt keine Veränderungen. Unsere Vorfahren hätten schliesslich hart geschuftet für das, was wir heute haben.
Aber ihr wisst schon, dass dort drüben viele für unseren Wohnstand hier schuften?
«Aber das sind nicht die, die zu uns kommen. Und sowieso haben wir doch schon genug.»
Deine Augen sind jetzt wieder weit aufgerissen, wenn Du erzählst, wie du in der Stadt Bern deine Tasche hütest «wie ne Häftlimacher». Reisverschluss zu, blick nach rechts, blick nach links. Um dich von den Ausländern zu hüten, den kriminellen muslimischen Männern.
Und woher weisst du, dass es Muslime sind?
«Das steht denen doch auf die Stirn geschrieben, Sämi.»
Klar, es gäbe auch jene, die wirklich Hilfe brauchen. Ausnahmen eben.
Haben deine blauen Augen nicht gerade an Glanz verloren? Ich fühle mich dir gerade weiter entfernt als jemals zuvor.
Ich trinke den Rotwein etwas zügiger und schaue dich an, Anja. Das Bild von dir, mitunter geglättet von nostalgischer Gefühlsduselei, es beginnt zu bröseln.
Auf dem Heimweg wirst Du noch erwähnen, dass Du für das Asylheim im Dorf Kleider gespendet und kürzlich einem tamilischen Mädchen ein Trottinett geschenkt hast. «Das dann schon.» Und in diesem Moment nehme ich alles, was ich haben kann, als Beweis dafür, dass dein Herz doch am rechten Fleck sitzt.
Leichtfüssig durcheinander
Ein paar Wochen sind seit diesem Abendessen in der Dorfpizzeria vergangen. Es hinterliess einen fahlen Nachgeschmack, ich brauchte eine Auszeit. Wars das jetzt, ist mein Annäherungsversuch gescheitert? Andererseits: Liegt nicht die Wurzel einer gespaltenen Gesellschaft gerade darin, dass sich gegensätzliche Lebensentwürfe viel zu selten treffen? Ich kann nicht Integration predigen und dich, meine Freundin von damals, ausschliessen – wegen einer Meinungsverschiedenheit.
Ausserdem warst du es, die mich bedingungslos wieder bei dir aufgenommen hat. Ohne zu hinterfragen, ob ich noch dazugehöre. Auf einmal war ich wieder die Freundin an deiner Seite. Warum ich weg war, spielt keine Rolle, und auch nicht, wie lange ich bleiben würde.
Ich fragte mich, ob ich dich genauso selbstverständlich aufgenommen hätte. Gut möglich, dass ich zu beschäftigt gewesen wäre, mit mir selbst und mit der Welt und mit allem von dem ich glaubte, es müsse mich etwas angehen.
So stehe ich eines Tages wieder bei dir vor der Tür. Vielleicht als Versöhnung, vielleicht auch nur, weil bald Ostern ist, bringe ich dir Tulpen mit. Du stellst sie auf den Esstisch und tauschst sie gegen den Christstern aus. Wir sitzen auf den Balkon, du servierst Aperol-Spritz, nebenbei bäckst du drei Züpfen und zwei Tübli, und ich greife inzwischen fast selbstverständlich zu deinen Marlboro Golds.
Anja, denkst du, werden wir wieder Freundinnen?
«Wieso nicht», sagst Du. «Schliesslich mag ich Chrüsimüsi-Freunde.» Du kannst dir auch vorstellen, dass man mit mir noch Rösser stehlen kann, wenns drauf ankommt. Und wenn ich über Politik reden wolle, müsse ich eben woanders hin. Denn um die Wahrheit zu sagen, interessiert dich das alles gar nicht so sehr. Krieg, Terror, Flucht, wie soll man damit umgehen? Von da, wo du in wenigen Wochen hinziehst, ist das sowieso weit weg.
Du beginnst von deinem baldigen Zuhause zu schwärmen, dem Weiler im Dorf, dort, wo jetzt die Rapsfelder blühen und Himbeersträucher und Zwetschgenbäume im Garten stehen. Hier unten, da werde ja alles zugebaut, modern sei nicht immer besser, aber dort oben, dort sei die Welt noch in Ordnung. Diese Ruhe, diese Weite. «Das bedeutet Freiheit für mich, Sämi.»
Und weil es gerade so passt, zeigst du mir dein Lieblingsgedicht, das du deinem Patenkind kürzlich zum Geburtstag geschrieben hattest:
Ich wünsche dir nicht alle möglichen Gaben,
Ich wünsche dir nur das was die meisten nicht haben
Ich wünsche dir Zeit dich zu freun und zu lachen
Und wenn du sie nützt kannst du etwas draus machen
Ich wünsche dir Zeit für dein Tun und dein Denken
Nicht für dich selbst, sondern auch zum Verschenken
Ich wünsche dir Zeit nicht zum Hasten und Rennen
Sondern die Zeit zum Zufriedensein können
In diesem Augenblick berühren mich die Zeilen mehr als jeder Goethe. Vor meinen Augen tuckern wir wieder mit dem Töffli der Sense entlang, Chips und Red Bull im Gepäck, fläzen uns auf die Steine an der Sense oder den Ping-Pong-Tisch auf dem Dorfplatz, und lassen den Nachmittag verstreichen, einfach, weil wir es können. Weil es für eine Freundschaft nicht mehr brauchte als das, damals. Ich wünschte, es wäre auch heute so einfach. Aber das ist es nicht.
Ich werde nie mehr zu deiner Welt gehören, auch, weil ich noch gar nie richtig dazu gehört habe. Was ich bei den Begegnungen mit dir heute als Erleichterung empfinde, würde mir in meinem Alltag bald anfangen zu fehlen. Ich kann nicht auf einmal aufhören, mich für das Weltgeschehen zu interessieren, für das Unbekannte, für die weite Welt. Während du Veränderungen leichtfüssig aus dem Weg gehst, würde ich langfristig ohne sie eingehen wie eine verdurstete Primel.
Du schreibst mir noch am gleichen Abend eine Nachricht, Donnerstag,13. März.
Liebs Sämi, danke für die schönen Tulpen, ich habe noch ein paar Hühner dazugestellt. Sorry, dass ich soviel zu tun hatte. Nächstes Mal möchte ich gerne mehr über dich und dein Leben reden anstatt immer nur von mir erzählen, ok?
Wir werden uns wiedersehen, du und ich, vielleicht in deinem Weiler, wo die Rapsfelder blühen. Dann werden wir reife Himbeeren von den Sträuchern pflücken und dein hausgemachtes Zwetschgen-Chutney essen. Und für einen kurzen Moment wird wieder alles so sein wie früher, du und ich, Schaumparties, Shakira, Zukunftsträumerei.