Freiere Liebe
Illustration
vonSimone Hörler
Die Namen der Protagonistinnen und Protagonisten dieser Geschichte sind Pseudonyme. David und Alessia, Mikkael und Lola heissen in Wirklichkeit anders.
David presst das Gesicht in das Sitzkissen mit den Styroporbällchen. Seine Hände krallen in den blauen Stoff, dass es knirscht. Flacher Atem, die Augen zugepresst, auf der Netzhaut tanzen Glühwürmer. Fuck, Fuck, Fuck, er will nichts mehr sehen, nichts hören, nicht sprechen müssen. Er will versinken in diesem verdammten schwarzen Sack, in das Sofa darunter und den Boden unter dem Sofa.
«David?»
Alessia berührt ihren Freund leicht an der Schulter.
«David, ich hab dir gesagt, dass so etwas schnell passieren könnte.»
Er soll raus aus diesem Kissen, soll mit ihr reden. Es ist Sonntagabend. «Ein beschissener Sonntagabend», sagt David noch ein Dreivierteljahr später.
Zwei Jahre waren David und Alessia zusammen gewesen, monogam. Als wäre mit ihrem ersten Kuss ein Korken aus der Flasche geschossen, entspann sich ihr Zusammensein als exzessive Melasse aus Lust, Musik, Alkohol, Zigaretten, zu wenig Schlaf und der unwirklich anmutenden Ahnung, zusammen alle Grenzen sprengen zu können. Klingt kitschig, «war aber so», sagt David. «Wir hatten dieselbe Lust, körperlich an unsere Grenzen zu gehen.»
Doch Alessia hatte dem Status schon länger misstraut: «Zusammensein». Für sie fühlte sich alles wie eine Verpflichtung an. Sich regelmässig melden, gemeinsam Zeit verbringen, sich nach jedem Streit wieder zusammenraufen. Sie will endlich unabhängig denken können, aufregenden Begegnungen nicht mehr aus dem Weg gehen müssen, spontane Entscheidungen zulassen können und niemandem Rechenschaft schuldig sein. Als sie David kennenlernt, schlägt sie ihm deshalb vor, eine offene Beziehung zu führen.
Als er Alessia kennenlernt, ist David seit drei Jahren Single, er hat sich eingerichtet in der rechenschaftsfreien Zone. Single-Dave ist unabhängig, spontan, direkt, charmant, Single-Dave ist ganz Herr seiner selbst. Doch mit den aufkeimenden Gefühlen für Alessia erodiert der Single-Panzer, plötzlich erhält da jemand Zugriff auf seine emotionale Schaltzentrale. Ein neues Gefühl der Verletzlichkeit macht sich breit. David ist zwei Jahre und ein Monat lang gegen Alessias Vorschlag.
Eines Nachts um drei Uhr legt er sich zu Alessia ins Bett. Sein Atem schwanger von Bier und Zahnpasta, die Haare verraucht. Er war im Ausgang gewesen, eine Burlesque Party in einer alten Bierbrauerei. Eine grosse Maskerade, er tanzte im abgeranzten Sakko und etwas zu kleinen Brockenhausstiefeln mit einer Frau, deren Namen er unter dem Bass nicht verstand. Im Pulk der tanzenden Menschen waren sie irgendwie aneinandergeraten. Ihr Blick durch die neblige, schwarze Luft, ihre Hand, die seine beim Tanzen streift. Alessia zu Hause im Bett, er hier. Seine Lippen auf denen dieser Frau, Alessia zu Hause im Bett, was hat das eine mit dem andern zu tun? Er liebt Alessia, doch dieses Spiel törnte ihn an. «Ich weiss mit voller Aufrichtigkeit, dass sich das in dem Moment nicht wie Betrug angefühlt hätte. Alessia und ich hatten eine richtig gute Phase zu dem Zeitpunkt, an meiner Liebe zu ihr hätte das bisschen Knutschen nichts geändert. Was ist schon dabei?»
Als Alessia erwacht, sagt er: «Ich hab jemanden kennengelernt, ich hätte sie gern geküsst. Wollen wir das mit der offenen Beziehung versuchen?»
Zum ersten Mal ist es David, der diesen Gedanken ausspricht. Die unbändige Lust der ersten Monate ist verflogen. Eine zeitlang gab’s Beziehungsstress, weil sich David mit einer neuen Clique rumtrieb, zu der Alessia keinen Zugang fand. Für David war das weniger schlimm, als er ihr gegenüber zugeben konnte, ihre Eifersucht beengte ihn. Die Stimmung hatte sich verschoben. Sie, die eigentlich hatte frei sein wollen, musste erkennen, dass sie am liebsten alles mit David teilen würde. Seine seltenen Alleingänge erfüllten sie mit Misstrauen.
Alessia blinzelt ihn von der Seite an, halb skeptisch, halb belustigt. Sie ist erleichtert, dass er es nicht einfach getan hat. «Bist du sicher, dass du das willst?» Er denkt noch immer an die Frau, die er nicht geküsst hat. Jetzt liegt er hier, bei seiner Freundin. Er kann sich das gut vorstellen. Sie sagt: «Nur dass du’s weisst: Es könnte schnell gehen, bis ich mit jemandem etwas habe.»
Sieben Tage später liegt David in seiner WG, krallt die Hände in die Styroporbällchen unter dem blauen Stoff dieses verdammten Sitzkissens und vergräbt sein Gesicht. Es war nichts Besonderes gewesen, es hatte sich einfach ergeben. Alessia hatte am Abend zuvor mit R. geschlafen.
Die vielen Möglichkeiten, sie sind bei uns angekommen, schon lange vor unserer Generation. Aber heute scheinen sie alltäglich geworden zu sein, und das Internet reibt sie uns im Minutentakt unter die Nase. Vor allem junge Menschen spotten über den Muff der Monogamie und schwärmen vom alternativen Zusammensein. Aber wie ist es wirklich, eine offene Beziehung zu führen? Was passiert zwischen zwei Menschen, die ihre Lust plötzlich mit Dritten teilen? Zwei Paare gewährten für acht Monate Einblicke in ihre Versuche mit der befreiten Liebe. Alessia und David sind das eine. Lola und Mikkael das andere.
Als Lola mit Mikkael zusammenkommt, ist sie 19 Jahre alt, er ein halbes Jahr jünger. Ein Jahr lang hatten sie sich davor gedrückt, ihr Verhältnis zu «labeln», wie Lola es nennt, beide hatten in dieser Zeit auch Geschichten mit anderen am laufen. Als sie zusammenkommen, arbeitet er als freischaffender Tontechniker für verschiedene Bands und Konzertveranstalter, sie beginnt ein Studium in Architektur und Innendesign.
Die Beziehung beginnt rasch zu fliegen. Derselbe Filmgeschmack, dieselben Sounds, Mikkael vergöttert seine Freundin, das hübscheste Wesen der Erde. Stundenlange Gespräche auf Lolas Bett, über Träume, Ziele, auch über Sex. «Es war uns von Anfang an wichtig zu wissen, was der andere will», sagt Lola. «Wir haben viel und maximal offen über unseren Sex geredet». In ihrem näheren Umfeld führt zu dem Zeitpunkt niemand eine offene Beziehung, auch für Lola und Mikkael steht ihre Exklusivität nie in Frage.
Mikkael ist passionierter Skater, zieht sich gut an und wird auch gerne darauf angesprochen. Manchmal überrascht er Lola mit Geschenken, oder er trommelt hinter ihrem Rücken den Freundeskreis zusammen, um an ihrem Geburtstag mit der grossen Überraschungskiste aufzufahren. Dann muss sie weinen vor Rührung. «War doch schön, oder? Hat’s dir gefallen?» Sie küsst ihn dann ganz fest.
Sie selbst ist nicht so der Überraschungstyp und muss sich dafür auch Vorwürfe gefallen lassen. «Bin ich dir nicht wichtig genug?» fragt er dann. Manchmal gibt’s deswegen Knatsch, sie kann mit seinem plötzlichen Verlangen nach Aufmerksamkeit nicht immer Schritt halten.
Aber die beiden lassen sich die gute Laune nicht verderben. Die Stimmung verrutscht erst, als sie bereits aus dem Elternhaus und in die Stadt gezogen ist und der dritte Jahrestag ihrer Beziehung verstreicht. Mikkael denkt darüber nach, seine Ausbildung im Ausland zu machen und verschickt seine Bewerbungen an mehrere Musikhochschulen in den USA. Die Referenzen stimmen, die Noten auch. Eine Fernbeziehung kommt für beide nicht infrage. Doch es kommen Absagen zurück und Mikkael bleibt. «Da standen wir vor einer komischen Situation» sagt Lola. «Irgendwie hatten wir schon zusammen abgeschlossen und dann passierte diese Trennung nicht.»
Lola und Mikkael wollen zusammenbleiben und trotzdem einen Neuanfang machen. Mit einer offenen Beziehung. Nicht, dass der Sex schlecht gewesen sei, sagt Lola, auch die Gefühle waren ja noch da. Aber es sei halt schon etwas Routine eingekehrt nach der ganzen Zeit. «Die Idee mit der offenen Beziehung war nicht, dass wir uns jetzt auf die Jagd nach Affären machen. Aber wir wollten es einfach mal zulassen können, wenn sich die Chance bot, jemanden näher kennenzulernen.»
Als David den ersten Schock verdaut hat, zieht er den Kopf aus dem Kissen. Atmet tief durch, den glasigen Blick ins Wohnzimmer gerichtet. R. «Was ist das für ein Typ?»
«Ich kenne ihn von früher.» Alessia sitzt neben ihm, schaut ihn von der Seite an, die Hände ineinander verknotet. Ihr Herz pocht, nach dem Nachtgespräch von letzter Woche hatte sie nicht mit dieser Reaktion gerechnet.
Er fragt: «Wo ist das passiert?»
«Niemand hat uns gesehen. Wir sind danach zu ihm heim.»
«Bist du danach dort geblieben?»
«Ja, aber um halb sechs bin ich heimgefahren.»
David zündet sich eine Zigarette an. Sitzt oben auf das Fensterbrett, unter ihm keucht der Bus auf der fahlgelben Quartierstrasse vorbei. Tempo 30, der Bus keucht darum immer etwas hochtourig und laut. Ist ihm irgendwann aufgefallen, warum denkt er in diesem Scheissmoment an sowas?
«Das hat schon ziemlich weh getan», sagt er ein paar Wochen später. «Ich weiss gar nicht, was genau mich am meisten gestresst hat. Die Tatsache, dass es so schnell passiert ist? Oder einfach der Gedanke daran, dass meine Freundin mit einem anderen geschlafen hat. Fuck, bei mir ist sofort das Kopfkino los.»
David erzählt, wie in seinem Kopf Bilder überblenden. Wie er mit Alessia schläft, wie sie sich küssen, sich ausziehen, wie er sie befriedigt, wie sie ihm einen bläst.
Dann plötzlich nur noch sie, nackt, mit jemand anderem, einem blinden Fleck. Er sieht sie, wie sie mit jemandem schläft, der nicht er selber ist, versucht sich auszumalen, wie dieser Typ aussieht, wie das aussieht. Ob sie dem anderen einen bläst?
«Bist du komplett bescheuert?» fragt sein Freund Christoph David, als dieser ihm von seinem neuen Beziehungsstatus erzählt. Xaver rät ihm, sich doch gleich zu trennen, das liefe auf dasselbe hinaus. «Und es wäre ehrlicher», wie er meint. Beide, Christoph und Xaver führen monogame Beziehungen.
Eine Freundin, Single, 23 Jahre alt, lässt durchschimmern, was sie von diesem «Experiment» hält. Sie habe letztens an einem Konzert mit jemandem geknutscht, erzählt sie. Erst nach einer Weile habe ihr der Typ gesagt, dass er ja eigentlich eine offene Beziehung führe. «Und plötzlich hat sich das irgendwie falsch angefühlt», sagt sie. «Natürlich wollte ich nicht gleich mit dem zusammen sein. Aber in diesem Moment ging die Illusion verloren, dass es irgendwie doch nur um uns ging. Wenn auch nur in diesem Augenblick. Plötzlich war alles so offensichtlich.»
Um in ihrer offenen Beziehung freie Lust und exklusive Liebe miteinander zu vereinen, stellen Lola und Mikkael Regeln auf. 1: Es ist okay, dreimal etwas mit derselben Person zu haben. 2: Die Affäre darf nicht länger als einen Monat dauern. Regeln, die verhindern sollen, dass man sich nicht in jemand anderen verliebt. Was sie nicht thematisieren: Dass sich jemand anderes in Lola oder Mikkael verlieben könnte.
Wenige Tage nachdem sie und Mikkael beschlossen hatten, ihre Beziehung zu öffnen, arbeitet Lola in einem kleinen Hinterhofcafé. Farbige Lampions an der Markise, Pflastersteine, meistens Abendschicht. A. bleibt oft noch etwas länger, er ist Stammgast und hilft manchmal beim Aufräumen. So auch an einem Januarabend, wenige Tage, nach der Öffnung von Lolas Beziehung. A. und Lola ziehen auch an diesem Abend noch eine Bar weiter auf ein Feierabendbier. Es werden drei. Bis sich Lola und A. auf der Treppe vor dem Haus küssen. Er kommt mit zu ihr, sie knutschen, sie knutschen heftig. Nach dieser Nacht bekommt Lola regelmässig Briefe von A. Bald darauf schlafen sie zum ersten Mal zusammen.
A. sitzt bald an jedem Abend unter der Markise des Cafés und wartet, bis Lola den Laden schliesst. Er weiss, dass sie einen Freund hat, kennt ihn aber nicht persönlich. Trotzdem lädt er Lola Wochen nach der einen Nacht und noch vor Ablauf eines Monats dazu ein, mit ihm aus der Stadt zu fahren. Er habe ein Hotelzimmer gebucht, irgendwo am Jurasüdfuss. «Weil es das letzte Mal ist», sagt er zu ihr, und sie willigt ein. Mit seinem Auto fahren A. und Lola an einem Freitagabend los, das Wetter mag mittelgut gewesen sein, an den Ort erinnert sich Lola ebensowenig. 24 Stunden verbringen die beiden in diesem Hotel, sie verzichten auf einen Ausflug in die Umgebung. Am Samstagabend fahren sie wieder zurück. Lola wird heiter, wenn sie von diesem Kurztrip erzählt, ein Lächeln kann sie sich nicht verkneifen.
Mikkael wusste von diesem Ausflug, Lola hatte ihm von der Einladung von A. erzählt. Ihm war dieser A. von Anfang an nicht geheuer. «Wie wars?» wollte er von Lola wissen, nachdem sie zum ersten Mal mit A. geschlafen hatte. Als sie «gut» sagte, wollte er wissen wie gut und ob besser als mit ihm. Er wusste, dass es lächerlich war, weil einem Klischee entsprechend, aber er wollte trotzdem wissen, wie gross der Schwanz von A. war. «Was soll ich dazu sagen?» fragte Lola etwas hilflos, er sei nun mal nicht klein. Da warf Mikkael in ihrem Zimmer eine Pflanze an die Wand, dass der Blumentopf zerplatzte.
Diese Briefe, dieses dauernde Gesitze vor dem Café. Hat der Typ nichts zu tun? Am Schlimmsten aber ist für Mikkael die Art, wie Lola über ihn redet. Hat sich seine Freundin etwa doch in diesen Mann verknallt? Lola kann das für seinen Geschmack nicht glaubwürdig genug entkräften, auch wenn sie ihm sagt, dass sie nur ihn, Mikkael, liebt. Obschon Lola sich auch ein bisschen in A. verliebt hat.
Doch sie hält sich an die Abmachung. Nach einem Monat hört sie auf, A. zu treffen und bittet ihn, an ihren Schichten nicht mehr im Café aufzutauchen. Erst hält sich A. daran, nach zwei Wochen taucht er trotzdem wieder auf. Ihr Atem geht schneller, wenn sie ihm das Bier über die Theke reicht, aber sie meidet seinen Blick und ignoriert ihn. A. schreibt Briefe, Lola reagiert nicht. «Dieser Typ war meine erste Geschichte ausserhalb unserer Beziehung, warum muss das gleich so mega anstrengend werden?» Lola sagt, dass ihr die Lust auf weitere Abenteuer vergangen sei, dass sie das alles zu fest mitnehme. Und dann der Stress mit Mikkael.
Auch David und Alessia definieren Regeln: 1: Der Sex soll sich auf One-Night-Stands beschränken. 2: Freundinnen und Kollegen sind tabu. 3. Wenn «etwas passiert» ist, sagt man es einander. Gleich am nächsten Morgen, oder noch in der Nacht. Auch per SMS.
David schreibt am 14. März, 05:36 Uhr: «… kann irgendwie nicht schlafen :( hab biz mit D. geknutscht, aber nicht mehr. Wie wars bei dir?»
Alessia schreibt am 22. April, 08:41 Uhr: «… Ich hab etwas mit F. gehabt, also wir haben zusammen geschlafen. Ich war extrem besoffen, ich glaube das bini immerno.»
Als David Alessia von seinem ersten Mal mit einer anderen erzählt, sitzt sie vor einem Kaffee, die späte Morgensonne scheint ihr direkt ins Gesicht. Er kommt mit dem Velo herangerauscht, hat den Wind noch in den frisch gewaschenen Haaren, als er sich dazusetzt. Er sieht gut aus, denkt sie unvermittelt. Und sagt es: «Du siehst gut aus.»
Alessia hatte geahnt, dass es passieren würde, kurz war ihr kalt ums Herz geworden. David hatte ihr am Abend zuvor vom geplanten Treffen mit N. erzählt. «Es kann sein, dass wir etwas miteinander haben. Wäre das okay?» hatte er gefragt, weil er ihr den umgekehrten Schrecken ersparen wollte – und weil Alessia N. kannte.
David nestelt eine Zigarette aus der Box, während er von der Nacht erzählt, Alessia lässt sich nichts anmerken. Sie sagt: «Ist doch schön, ich freu mich für dich.» Er nickt, schaut ihr ins Gesicht. Auch Alessia steckt sich eine an, bläst den Rauch aus dem Mundwinkel. «Und warum seid ihr nicht zu ihr? Warum seid ihr zu dir heim gegangen?»
«Wegen ihrem Mitbewohner. Sie wollte nicht, dass er das mitkriegt.»
«Ah okay, das versteh ich.» Ihre Augen wandern über sein Gesicht, seine Haare, seinen Pullover. Als suche sich nach etwas, doch David ist frisch gewaschen. Er hält die Ellbogen auf die Knie gestützt, schaut leicht von unten zurück. Dann küsst er sie.
Alessia beschliesst, sich nach etwas Literatur zum Thema offene Beziehungen umzusehen. Die Buchhändlerin hält kurz inne, nickt, fährt mit dem Finger die Titel der Themenabteilung «Liebe und Beziehung» entlang. «So, da hätten wir –», sie legt Alessia einen Stapel Bücher auf den Tisch.
«Die Psychologie der Untreue» – Shirley P. Glass
«Wenn Liebe fremdgeht. Vom richtigen Umgang mit Affären» – Ulrich Clement
«Wandervögler. Warum Männer unbedachter fremdgehen» – Catherine Herriger
Alessia verlässt den Laden, ohne etwas zu kaufen. Entweder hatte die Buchhändlerin da etwas nicht verstanden, oder sie war in der falschen Bücherei gewesen. Wie ist das eigentlich mit dieser Treue? Geht David fremd, wenn er mit ihrem Einverständnis mit anderen Frauen schläft? Wikipedia definiert Treue als «Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen ausdrückt.» Sie basiere auf Vertrauen beziehungsweise Loyalität. Sexuelle Exklusivität und Treue haben also erst einmal nichts miteinander zu tun. Das Stichwort heisst Vertrauen.
«Für mich ist es absolut entscheidend, dass ich mich auf dich verlassen kann», sagt Alessia zu David. «Ich muss mich an etwas festhalten können.» David soll sich an die Regeln halten und mit niemandem ein zweites Mal schlafen.
Neben der Loyalität und dem Vertrauen wabert aber noch eine dritte Tugend im Dunstkreis der Treue: Rücksicht. Wenn David bei der Arbeit die Dinge über den Kopf wachsen, kommt er mit Alessias sexuellen Ausflügen ganz schlecht klar. Er wünscht sich, dass sie dann auf den Kick verzichtet, um nur für ihn da zu sein. Nur: Verbieten will er ihr nichts. Er wünscht sich, dass sie sein Bedürfnis aus freien Stücken erkennt und entsprechend handelt. Sie will das auch. Die neue Challenge in der Beziehung zwischen Alessia und David: Verlockungen widerstehen.
Ein Freitag im Juli. David beisst sich beinahe die Lippen ab. Er steht irgendwo im Hinterhof an einem Quartierfest, es ist dunkel unter den Bäumen, L. steht vor ihm und plaudert in die Sommernacht. L. steht so nahe, dass David ihre Körperwärme spürt.
Alessia konnte nicht dabeisein, sie liegt mit Fieber zuhause im Bett. Dabei hatte sie sich auf diesen Abend gefreut. David denkt an sie, hört L. nicht recht zu, denkt an Alessia, schaut L. auf den Mund. Ob Alessia sauer wäre?
Ich sollte das wirklich nicht tun, denkt er.
«Gute Nacht», hatte Alessia kurz vorher per SMS geschrieben, kein «geniess es», kein «trink eins für mich mit.» Von irgendwoher ruft eine Freundin nach L. und die beiden gehen zurück. David tanzt noch eine Weile im viel zu engen Keller, dann geht er nach Hause und legt den Arm um Alessia, die schläft. In Gedanken ist er noch kurz unter dem Blätterdach in diesem Innenhof, dann erleichtert, dass nichts passiert ist.
Als David zwei Wochen später einen Sonntagsdienst schiebt, hat Alessia Besuch. J. kommt immer wieder mal in ihrer WG vorbei, dann lümmelt er mit den Mädels auf dem braunen Ecksofa im Wohnzimmer, schlägt die Beine übereinander und hört sich die Sprüche über seine neuen Schuhe an. An diesem Sonntag ist ausser Alessia niemand zu Hause, ihr brummt der Kopf. Katersonntag. J. legt den Arm um ihre Schulter und kuschelt sie ein. Sie spürt seinen warmen Atem im Nacken, die Hand auf ihrer Hüfte. Sie kann J. gut leiden.
Alessia bleibt noch eine Weile so liegen. Seine Hand liegt noch immer auf ihrer Hüfte. Dann steht sie auf und macht Tee.
Alessia erzählt David vom Besuch von J. und dass sie kurz davor war, ihm einfach das T-Shirt auszuziehen. So wie David Alessia nicht ohne Stolz von seiner Standhaftigkeit in jener Nacht erzählt hatte, als Alessia krank war.
Seit Beginn des neuen Abschnitts in ihrer Beziehung ist Alessias Welt eine andere. Wenn sie im Ausgang angeschaut wird, schaut sie zurück. Wer ist er? Was will er? Gefällt er? Alessia lässt sich nicht anmachen, sie verabredet sich lieber mit H., den sie noch vor ihrer Zeit mit David kannte. Ein grosser, breitschultriger Typ mit kantigen Augenknochen. Sie will mit H. schlafen, weil er so leise redet, weil er so gross, aber schüchtern ist, und weil seine Augen so traurig schauen. Sie trinken Bier in einem Club, tanzen, reden nicht, da drängt sich David an ihr vorbei.
David ist auch da, im selben Club. Feiern mit Freunden. Kurz schaut er verdutzt, gibt H. die Hand, weiss, dass Alessia H. attraktiv findet. Sie zieht David zu sich ran, ob es ihn störe, wenn sie etwas mit H. habe, sagt sie ihm ins Ohr. David muss grinsen.
«Nein», sagt er. «Okay», sagt sie. David verabschiedet sich und geht an die Bar.
In dieser Nacht schläft Alessia mit H. David hat Sex mit L.
«Und das funktioniert wirklich?» Alessias Freundinnen verfolgen das Experiment mit Neugierde. Davids Freunde mit Argwohn. Was heisst funktionieren, denkt Alessia. Was ist euer Problem, fragt David.
Die Begegnung war für beide eine Erleichterung. Sie waren gut gelaunt an diesem Abend, selbstsicher, strahlend, «erfolgreich», unabhängig. Niemand von Davids Freunden hat die Szene mitgekriegt, Alessia hatte das Lokal mit H. bald verlassen. «Dass wir beide am selben Abend mit jemandem schlafen, ist das Beste, was uns in der Hinsicht passieren kann», sagt David. Was auch gut geht: Wenn Alessia in eine andere Stadt fährt und dort mit jemandem knutscht.
«Die räumliche Distanz lässt dass den Sex irgendwie noch unwichtiger werden», sagt Alessia, «ich werde die Person nie mehr sehen. Dieser Moment ist wirklich meilenweit von unserem Beziehungsalltag entfernt.» David pflichtet ihr bei: Geschichten ausserhalb unseres gemeinsamen Lebensradius tangieren uns einfach am wenigsten.» Alessia ruft David am diesem Abend an und erzählt, dass sie an der WG-Party mit diesem Typen geknutscht hat. Zum Abschied wünscht sie David eine gute Nacht und sagt «ich küss dich». Da muss er kurz schlucken. Dann lachen. Komische Situation.
David erzählt keine Details. Nicht nach den ersten paar Malen. Alessia auch nicht. Was genau passiert ist, worüber sie gesprochen haben, der Verlauf des Abends, wer wen zuerst geküsst hat, der Sex – all diese Informationen werden am Morgen danach mit Floskeln verwässert. «Gestern hatte ich etwas mit A», sagt sie oft. «Ich habe bei L übernachtet», schreibt er.
«Okay – wie wars?»
«Gut»
Meistens war es gut. Manchmal aber auch nicht. Einmal erzählt sie: «J. hat sich überhaupt nicht um meine Bedürfnisse geschert und hatte nach ein paar Sekunden einen Orgasmus. Dann fragt er mich im vollen Ernst: Bist du gekommen?» Sie findet das zwar scheisse von ihm, aber weil’s so lächerlich ist auch ein bisschen lustig. Eine Anekdote, wie sie ihre Freundinnen viele zu erzählen wissen. David findet das nicht lustig. «Warum tust du das dann überhaupt?»
In seinem Kopf läuft wieder der Film. Ein blinder Fleck, der sich nimmt, was er will. Seine Freundin. Irgendwann platzt ihm wegen dieses immer wiederkehrenden, nichtssagenden Ausdrucks der Kragen: «Was heisst das, ihr habt ‹etwas gehabt?› Habt ihr jetzt nur geknutscht oder gevögelt?»
Auch Mikkael und Lola verzichten lange darauf, sich im Detail darüber auszusprechen, was in der vergangenen Nacht passiert war. Auch sie zünden rhetorische Nebelpetarden, um der Intimität mit jemand anderem keine klaren Konturen geben zu müssen.
Als Lola und Mikkael an Lolas erster Nacht mit A. zurückdenken, ist von «der Sache» die Rede. Das geschieht an einem Abend im Frühsommer, der Asphalt noch angenehm warm, und stünde der Wasserpegel des Flusses nicht so tief, man könnte wenigstens die Füsse abkühlen.
Mikkael erzählt, dass er viel über seine Freundin rede, wenn er ein «Date» hat, wie er es nennt. Und Mikkael hatte viele Dates, seit er und Lola ihre Beziehung geöffnet haben. «Ich frage mich, wie du es überhaupt schaffst, so viele Leute kennenzulernen», sagt sie und lacht. Mikkael schmunzelt kurz, schnalzt mit dem Feuerzeug den Bierdeckel von der Flasche. Er verliert ein paar Worte über seine Affären und, eben, dass er immer von Lola schwärme. Aber «die Sache», die mache ihm dann schon noch zu schaffen.
Mikkael wirft Lola vor, sich gegenüber A. im Sinne ihrer Abmachung nicht korrekt verhalten zu haben. «Du hast doch genau gewusst, dass der total in dich verschossen ist.» Er beugt sich vor. «Du hast ihm verdammt nochmal Hoffnungen gemacht.» Mikkael wird grob, wenn er auf die sexuellen Ausflüge Lolas zu sprechen kommt. Er sagt «sich ficken lassen» und «einem Typen am Lümmel hängen». Lola schüttelt den Kopf. «Ich kann doch seine Gefühle nicht steuern», sagt sie. «Ich hab ihm mehrmals gesagt, er soll aufhören, mir zu schreiben.» Das Gespräch läuft aus dem Ruder. «Die Sache» ist zu diesem Zeitpunkt zwar schon Monate her, aber offenbar nicht ausgestanden. Mikkael und Lola wollen jetzt alleine sein.
Mikkael weiss, dass er nie auf die Idee käme, den eigenen sexuellen Akt mit seiner Freundin damit zu beschreiben, dass sie «sich ficken lässt». Aber er benutzt diesen vulgären Ausdruck, wenn er über den Sex seiner Freundin mit A. spricht. Mikkael will nicht genau wissen, was Lola und A. zusammen machen. Aber was sie machen, macht er in seiner Fantasie kaputt.
Ein ähnliches Manöver fährt David, wenn er Alessia den Ausdruck «etwas haben» verwehrt.
Diese Lücke des Nicht-wissen-wollens und Nicht-erzählt-bekommens füllt sich auch bei ihm mit gewalttätigen Szenarien, die unendlich weit weg von der eigenen sexuellen Erfahrung mit Alessia liegen. Vor seinem inneren Auge sieht er Typen, die seine Freundin «abschleppen», sich von ihr einen blasen lassen, sie vögeln wollen.
Es sind dunkle Stereotypen, die in David hochgespült werden. «In mir hallt dann das Gerede von früher nach» sagt er. Als er noch öfters mit seinen Jungs um die Häuser zog, wurden solche derben Zoten halbwegs ironisch herumgereicht. Aber jetzt, in Momenten der Wut, werden diese Sprüche plötzlich zu völlig ironiefreien Gästen seiner Fantasie.
«Das ist allerdings nicht das Problem von Alessia. Es ist mein verdammtes Problem», sagt David. «Meine Freundin ist eine selbstbewusste Frau, die weiss, was sie nicht will.» Er bezeichnet den Schmerz, den er manchmal empfindet, als «Abwehrzuckungen». Ein Reflex, der will, «dass sie mir gehört.»
Und er, der sich selbst als eigentlich «aufgeklärten Typen» beschreibt, merkt, dass er seine eigene Art auf Frauen zuzugehen auf andere Männer projiziert. Er realisiert, wie er seine eigene, manchmal aufdringliche Art in Gestalt dieser Fantasietypen mit seiner Freundin konfrontiert sieht. Weisse blinde Flecken. Und er merkt, dass er seine Freundin dafür verurteilt, wenn sie sich auf diese Dreistigkeit einlässt. Seine eigene Dreistigkeit.
Dominique Zimmermann, Philosophin und Mutter zweier Kinder, setzt sich seit vielen Jahren mit Polyamorie auseinander. «Eifersucht ist natürlich auch für Polys ein grosses Thema», sagt sie. «Früher hatte ich deswegen auch schon grauenhafte Zustände.» Sie lacht.
2012 publiziert Zimmermann zusammen mit Imre Hofmann das Buch Die andere Beziehung, das die Autorin etwas umständlich als «philosophische Auseinandersetzung mit lebenspraktischen Überlegungen zur Polyamorie» bezeichnet. Es widmet sich in einem ganzen Kapitel der Eifersucht.
Zimmermann schreibt darin: «Es ist anzunehmen, dass Menschen mit einer ausgeprägten Fantasie besonders intensiv mit solchen Gefühlen (Eifersucht) konfrontiert werden, da die Fähigkeit, sich pikante Details auszumalen, ausgeprägter ist.»
Das würde sie heute noch so formulieren, sagt Zimmermann, aber das Gute sei ja: Das Erleben von Eifersucht ist veränderbar. Am Ausgangspunkt steht ein diffuses Angstgefühl. Davids Kopf im Kissen, Davids rasendes Herz, David, der nach Alessias erster Beichte gar nicht genau wusste, was ihn so in Rage brachte.
Zimmermann spricht von «erlernten Angstbildern», die sich erst angreifbar machen, wenn man sich mit ihnen konfrontiert. Sie holt ein anderes Buch aus dem Regal, The Ethical Slut, eine Art Bibel der Poly-Szene. Eifersucht erscheint hier als vieldimensionale Emotion, die sich aus verschiedenen Komponenten wie Angst vor Verlust, Unsicherheit, Wut oder Einsamkeit zusammensetzt. Das Gefühl entsteht aus einer gefühlten Position der Schwäche. «Darum sind besonders symbiotische Beziehungen auch anfälliger für Eifersucht», sagt Zimmermann. Das Gefühl, nur zusammen ein Ganzes zu bilden, schüre den Besitzanspruch auf den Partner und damit auch die Angst vor Verlust.
Und darum helfe es, ab und zu den Blick auf sich selber zu richten und danach zu fragen, was man denn eigentlich für sich selber möchte, nicht nur innerhalb einer Beziehung. «Das tönt jetzt vielleicht egoistisch, aber eigentlich ist das Gegenteil der Fall.» Zimmermann stellt die leere Tasse auf den Tisch. «Wenn man sich selber gut kennt und weiss, was man möchte, erst dann kann man doch aus freien Stücken für den oder die anderen da sein und auf seine Bedürfnisse eingehen – sofern sie mit den eigenen zu vereinbaren sind.»
Sie hört sich die Geschichten an von Mikkael, der zwar viele Affären hat, aber mit den Briefen von A. nicht klar kommt. Von Alessia, die David den Kontakt zu seinen Sex-Partnerinnen manchmal am liebsten verbieten möchte aus Angst, er könnte sich in eine andere verlieben. Sie könne diese Ängste zwar verstehen, aber die Paare machten sich mit ihrem widersprüchlichen Konzept das Leben selbst schwer.
Zimmermann sieht das so: «Entweder man lebt monogam und hat vermeintlich emotionale Sicherheit, oder man entscheidet sich für die Polyamorie und lässt die Möglichkeit zu, mehrere gleichwertige Beziehungen zu haben. Aber dieses Zwischending mit einer emotionalen Basisbeziehung plus der Möglichkeit, sich sexuell anderweitig auszuleben - ich weiss nicht, ob das gut gehen kann und so ganz zu meiner Auffassung von Polyamorie passt.»
Seit David und Alessia eine offene Beziehung haben, gehen sie nicht mehr so oft zusammen aus wie früher. Dafür verbringen sie tagsüber mehr Zeit zu Zweit, gehen Pingpong spielen auf der Platte am Fluss oder schauen sich zusammen Fussballspiele an. Manchmal treffen sie in der Stadt auf eine Affäre, dann gibt’s ein kurzes «Hallo», nicht mehr. «Ich erzähle jedem der Jungs von unserer Beziehung. Dass wir ein Paar sind, ist für niemanden ein Geheimnis», sagt Alessia. Dass sich jemand Drittes in David oder sie verliebt, sei noch nie vorgekommen.
Ihre Beziehung habe sich schon verändert, in dem dreiviertel Jahr, das sie jetzt offen leben. Intensiver, bewusster, aber auch fragiler. Auch nach so langer Zeit lösen die Nächte mit anderen noch kleine Nachbeben aus, wenn auch das «Magenbeissen» spürbar abgenommen hat, seit David und Alessia im September einmal zusammensassen und sie ihm einfach erzählt hat, was jetzt genau passiert war. Dass sie Oralsex hatten, der Typ schon etwas zu betrunken war, sie aber trotzdem mit ihm schlafen wollte und sich währenddessen selbst befriedigt hatte, word, es gehe schliesslich auch um sie. David hört zu, raucht eine, obwohl er sonntags nicht raucht, lacht, schaut sie an. Dann küsst er sie.
Mikkael setzt sich an einem Sonntag, siebeneinhalb Monate, nachdem sie ihre Beziehung geöffnet hatten, in Lolas WG an den Tisch, isst von der mitgebrachten Fertigpizza, was Lola scheisse findet, schliesslich geht es jetzt ums Schlussmachen.
Mikkael hatte am Abend zuvor eine Verabredung gehabt. Die x-te innert kürzester Zeit. Er hatte Lola getroffen, als er gerade mit seinem Date den Club verlassen wollte. Dass er sich nicht für sie interessierte, hatte ihr den Rest gegeben. «Ich will jetzt für eine Weile einfach nur ich selber sein».