App am Start
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Erzählt nicht euer Leben, das interessiert niemanden. Was ist das Problem, wo ist die Lösung, wie macht ihr damit Geld. Zwei Minuten. So hat es Matthias Dörner gelernt.
Nun steht er auf der Bühne vor dem grauen MacBook, um die 100 potenzielle Investoren hören ihm zu, zumindest für diese beiden Minuten. „We make the art world wydr“, steht auf seiner ersten Powerpoint-Folie.
„How do we make money?“, fragt Dörner. Er senkt seine Stimme, sagt: „Wir nehmen 30 Prozent Kommission auf jeden Verkauf. Ganz einfach.“ Er beugt sich über seinen Laptop, um zur nächsten Folie zu klicken. Als er wieder aufblickt, lachen alle, auch die Männer mit Krawatte. Diese ungewöhnliche Lockerheit, dieser Sekunden-Flirt mit dem Publikum, es ist vielleicht Dörners grösster Trumpf.
Pitching Battle nennt sich die Show am 21. Oktober 2015 am Swiss Startup Day in Bern. 40 Jungunternehmen buhlen um die Gunst der Investoren. Dörner stellt an diesem Tag seine App Wydr vor: Ein „Tinder für Kunst“. Künstler laden ihre Werke auf die digitale Plattform und bestimmen einen Preis. Nutzer können durch Bilder wischen und sie kaufen. Während eines MBA-Kurses glaubt Dörner, eine Marktlücke entdeckt zu haben: Zwischen hochpreisigen Kunstwerken und den Massenprodukten von Ikea müsste es einen Platz geben für individuelle, aber erschwingliche Kunst.
„Wir wollen den Kunstmarkt demokratisieren“, sagt Dörner gerne. Die Masse soll entscheiden, was gute Kunst ist, nicht die „Türsteher“, also Experten wie Galeristen. Mag ein Nutzer ein Bild nicht, wischt er auf dem Bildschirm nach links. Mag er hingegen das Bild, wischt er nach rechts und das Bild landet in der eigenen Galerie. Wenn viele das Bild mögen, steigt dessen „Community Rating“.
Dörner ging mit Wydr Anfang 2015 an den Start. Praktisch gleichzeitig riefen Wirtschaftsvertreter und Politiker mit „Digital Zurich 2025“ die digitale Revolution aus. Diese müsse auch in Zürich starten, die Stadt solle zum Silicon Valley Europas werden, lautet die selbstbewusste Botschaft der Standortförderer. Ein halbes Jahr später kündigte Dörner, 34 Jahre alt, seinen Job als Ingenieur. Er und sein Geschäftspartner schossen je 25 000 Franken ein: den Preis für die Teilnahme an der Revolution.
Am Pitch in Bern sagt Dörner den Investoren: „Der Kunstmarkt wartet schlicht darauf, umgekrempelt zu werden.“ Am Ende seiner zwei Minuten nennt er eine Zahl. Für „weitere Produktentwicklungs- sowie Marketing- und Verkaufsaktivitäten“ brauche er 450 000 Franken.
Danach tritt ein Investor an Dörner heran. Er sieht nicht aus wie die anderen, trägt blonden Bart und die Haare modisch geföhnt – ein Ex-Gründer, der die Seiten gewechselt hat. Ihm leuchte ein, wie man mit der Idee Geld verdienen kann. Der Kunstmarkt sei riesig, das Produkt emotional, die Zielgruppe klar. 60 Milliarden schwer ist alleine der Fine-Arts-Markt, derjenige der Ikea-Bilder noch grösser. Bereits mit wenigen Verkäufen könne Wydr profitabel werden. „Wenn es funktioniert, kann das durch die Decke gehen.“
Dörner ist zufrieden. Nun möchte er nach Lehrbuch vorgehen: Möglichst schnell die App auf den Markt bringen, eine fünfstellige Zahl an Downloads und erste Verkäufe vorweisen. Sobald ein Nutzer mehr einbringt, als er kostet, kann er die Visitenkarten hervorziehen, die er in Bern gesammelt hat. Spätestens in drei Monaten sollte klar sein, ob die Idee taugt. In den Büchern steht: „If you fail, you fail fast.“
Ein Investor hatte einmal zu Dörner gesagt: „Am liebsten wäre mir, ihr beide hättet Hypothek, Schulden, ein Auto geleast und zwei Kinder zu ernähren.“ Und warum?, fragte Dörner. „Euer Leidensdruck wäre am grössten.“
Nun sitzt Dörner auf dem Sofa seiner Dreizimmer-Neubau-WG in Zürich-West und trinkt ein Glas Milch. Aus den Boxen klingt dezenter Hip-Hop. Durch das Fenster zum Balkon sieht man die Lichter der Häuser am Hönggerberg. Irgendwo in einer Schublade liegt sein ETH-Diplom. Nach dem Maschinenbau-Studium hatte er acht Jahre lang in der Medizintechnik gutes Geld verdient. Aber nach der Ausbildung zum Master of Business Adminstration (MBA) kündigte er, um den Kunstmarkt zu digitalisieren. Das Leben bei einer Grossfirma erlebte er als zu wenig aufregend. „Da bist du wie in Watte eingepackt.“ Jetzt aber falle er auf die Nase, wenn er etwas falsch mache.
Es ist ein Abend kurz vor Weihnachten, die App ist noch immer nicht in Apples App Store erhältlich. Es gab Verzögerungen während der Programmierung. Dörners Geschäftspartner Timo Hahn ist gekommen, an diesem Tag hätte es endlich so weit sein sollen. Doch die App stürzte im Kontrollprozess von Apple ab. Nun müssen sie erneut warten.
Wydr ist Dörners und Hahns gemeinsames Baby. Wie Dörner kündigte auch Hahn im Sommer 2015 seinen Job. Seit letztem Herbst arbeitet er aber wieder Vollzeit. Der Frau und den beiden Kindern zuliebe, wie er sagt. Kennen gelernt haben sich die beiden während des MBA-Studiums in St. Gallen. Die Idee für Wydr – der Name ist eine Kunstform aus „White Wall“ und „Tinder“ – entstand vor eineinhalb Jahren im Kurs „Entrepreneurship“. Eine Handvoll Studenten arbeitete an der Idee. Als Dörner nach dem Kurs fragte, wer auf ernst mache, war nur noch Hahn dabei.
Hahn und Dörner haben zwei Dinge gemeinsam: Sie kommen ursprünglich aus Deutschland und tragen ihre Haare nach hinten gegelt.
Matthias Dörner trägt Dreitagebart und wenn er aus dem Haus geht Nike-Schuhe und einen grünen Stoffrucksack.
Er sei der Kunstaffine von beiden, sagt er, ist aber von Geburt an rotgrünblind. Dörners Freundin lebt in Berlin, er ist viel unterwegs. Dörner geht immer mal wieder auf Partys, die irgendwie auch Netzwerktreffen sind, und er geht zu Netzwerktreffen, die in Partys enden.
Hahn, 36 Jahre alt, ist der Techie von beiden. Er hatte ursprünglich Informatik studiert und arbeitet nun als Anti-Security-Risk-Manager bei einer Schweizer Grossbank. Für Wydr arbeitet er, wenn die Kinder im Bett sind. Manchmal hält er nach Feierabend auch Vorträge an Startup-Treffen. Dass er auch dort glatt rasiert und im Hemd auftritt, hänge damit zusammen, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffe, sich downzudressen.
„Wir ergänzen uns gut“, sagt Hahn.
Am 6. Januar schickt Dörner eine WhatsApp-Nachricht. „App ist online!!!“ Dazu ein Daumen-hoch-, ein Champagnerflaschen- und ein Fest-Emoticon.
Zwei Tage später haben 100 Leute Wydr heruntergeladen. Dörner ist nicht zufrieden. Das ist nicht Masse, sondern Freundeskreis. Er kenne ein Startup, das von Apple gefeatured wurde, die hätten 20 000 Downloads alleine in der ersten Woche gehabt, sagt er. Wieder ein paar Tage später, ungefähr eine Woche nach dem Live, vermeldet Dörner 250 Downloads. Das Branchenportal startupticker.ch hatte über sie berichtet. Immerhin.
Käufer sind zwar keine in Sicht, dafür meldet sich ein grosser Künstler. Einer der rund 40 Maler, die zu diesem Zeitpunkt Bilder hoch geladen haben, sei der bekannteste Künstler Südafrikas: Conor Mccreedy, in Zürich zu Hause. „Damit hatten wir nie gerechnet“, sagt Dörner. Eines der beiden Bilder, die der Künstler anbietet, kostet 781 000 Euro. Alleine mit dem Verkauf dieses einen Bildes würde Wydr über 200 000 Franken einnehmen, 20 Mal mehr als der erwartete Jahresumsatz. Würde, denn noch immer ist kein Bild auf der App verkauft.
Dörner wertet das unerwartete Kunstwerk in einer Medienmitteilung als Zeichen für den „Traumstart“. Gegenüber Freunden witzelt er, er würde „wild masturbierend durchs Zimmer hüpfen“, wenn einer das Bild kaufen sollte. Tatsächlich aber stellt das Gemälde Wydrs komplettes Geschäftsmodell infrage.
Ganz am Anfang war Dörner davon ausgegangen, dass vor allem Jungkünstler Bilder anbieten und dafür einige Hundert Franken verlangen. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass Galeristen für die jungen Künstler nicht nur lästige Türsteher sind, sondern auch willkommene Mentoren. „Wenn mir einer mit so viel Erfahrung ein positives Feedback gibt, ist das auch ein Zeichen der Wertschätzung“, sagt eine junge Schweizer Künstlerin, die eben ihren ersten Auftritt in „Glanz und Gloria“ hatte. Ausserdem befürchte sie, dass das „Sammelsurium“ an Bildern auf Wydr „ramschig“ wirke, was indirekt ihren Marktwert gefährden könnte. Aufgrund solcher Rückmeldungen setzte Dörner fortan nicht mehr auf junge Profis, sondern auf Hobbykünstler, die über die App erschwingliche Kunst anbieten.
Doch auch das klappt nun nicht: Denn die meisten der Bilder auf Wydr kosten einen vierstelligen Betrag, sind also viel teurer als erwartet. Das kann zwei Gründe haben: Entweder nutzen allen voran etablierte Künstler wie Mccreedy die Plattform, oder aber die Hobbykünstler verlangen massiv übertriebene Preise.
„Boxed Day“, heisst eines der Bilder auf Wydr. Es zeigt ein Schiff mit rotem Segel im grauen Meer, Wolken am Himmel, ein paar gelbe Punkte. Die Pinselstriche dick wie von einem Kind gemalt. Der Wert von Kunst ist immer Ansichtssache. Es gibt aber eine unter jungen Künstlern verbreitete Formel, um den Preis ihrer Bilder zu kalkulieren: Breite plus Höhe multipliziert mit fünf. Demnach würde ein Schweizer Kunstanfänger für das 24 mal 32 Zentimeter grosse Gemälde etwa 280 Franken verlangen. Der marokkanische Künstler stellte “Boxed Day” für 4 290 Euro auf Wydr.
Eine Zensur bei den angebotenen Bildern steht für Dörner nicht zur Debatte. Denn das würde dem Grundsatz widersprechen, wonach die Masse entscheidet, was gute Kunst ist. Also zielt Dörner neu auf die etablierten Künstler und deren hochpreisige Bilder. Neben Mccreedy hat er ein weiteres Indiz, dass es da einen Bedarf gibt: „Auch Galeristen haben Bilder hochgeladen.“ Anders gesagt: Statt weiter eine Marktlücke zu suchen, die es anscheinend nicht gibt, positioniert er die App als Konkurrenz zum bestehenden Kunst-Establishment.
Mit dieser Idee im Kopf fährt er ins Zürcher Seefeld zur IT-Agentur, welche die App für Wydr erstellt hat. Weder Dörner noch Hahn können programmieren.
Dörner raucht draussen eine Zigarette, bevor er die Türe öffnet. Links neben dem Eingang hängt eingerahmt der Spruch „Kunst ist alles ist Kunst“. Das Büro ist gross und schlicht und eigentlich kein Büro, sondern der Showroom eines Büromöbel-Designers, der hie und da mit einem Kunden vorbeikommt. Kein Zettel, keine Mappe liegt herum. „Wir haben einen Mac, es ist alles in der Cloud“, sagt der CEO.
Zusammen mit dem CTO setzt sich Dörner vor den grossen Mac. Beide blicken in den Bildschirm. Der CTO repetiert: „Die Hotness wird zurückgeliefert an die API. Dann habt ihr eine Collection, in der ihr sortieren könnt nach Hotness. Also Community Rating ist eure Hotness.“ Alle paar Sekunden macht es „Ping“; die 40 Programmierer aus Belgrad melden sich über den Slack-Chat oder das Projekt-Tool Basecamp.
Dörner will wissen, was ein „Artist Profil Paket“ kostet. Die Idee: Künstler sollen sich auf Wydr mit ein paar Sätzen vorstellen, ein Foto hochladen, über ihre Kunst schreiben. Wenn man weiss, wer Mccreedy ist, ist man auch eher bereit, ein paar Hunderttausend Euro für eines seiner Bilder auszugeben, lautet die Idee. Die Programmierer versprechen, eine Offerte zu schicken.
Erst einmal warten, das ist sich Dörner gewohnt. Warten, bis Geschäftspartner Hahn Feierabend hat. Warten, bis die Programmierer eine Offerte schicken. Warten, bis die App vielleicht doch noch abhebt.
Es daure schon etwas lange bei Wydr, sagt ein Investor bei einem Startup-Treffen, der ansonsten sehr angetan ist von Dörners und Hahns Vorgehensweise. In den nächsten zwei bis drei Monaten müsse etwas passieren. Zahlen müssen her: Downloads, Verkäufe, der Beweis, dass es den Markt gibt. Der Investor sagt: „Was fehlt, ist der Shake of the Pudding.“
Am 5. Februar schreibt Startupticker.ch: „Let’s celebrate.” Das Virtual-Reality-Startup MindMaze aus Lausanne gehört neu zum exklusiven Klub der „Unicorns“, dem sonst vor allem Tech-Grössen aus dem Silicon Valley angehören. MindMaze ist mehr als eine Milliarde Dollar wert. „Ein grosser Erfolg für die Schweiz als Startup-Hub“, schreibt das Branchenportal.
Derweil bei Wydr: 150 Bilder, 380 Downloads, kein Umsatz. „Organisches Wachstum“, nennt Dörner das. Aber organisch reicht nicht für eine Revolution.
In der US-Fernsehserie „Silicon Valley“ gibt es eine Szene, in der ein Startup eine App namens „Bro“ entwickelt. Deren einzige Funktion: Nutzer können sich das Wort „Bro“ hin- und herschicken. Was wie ein komischer Einfall klingt, gibt es tatsächlich: Die App „Yo“ wurde mehr als zwei Millionen Mal heruntergeladen und die Gründer sammelten bei Investoren eineinhalb Millionen Dollar ein.
Solche Geschichten würden das Bild verzerren, findet der Investor vom Startup-Treffen. In den Medien lese man immer nur die „heroisierten Erfolgsgeschichten“, was zur Folge habe, dass Gründer den Weg zum Erfolg unterschätzten. Die meisten Startups scheitern. Im Silicon Valley sind es neun von zehn – in der Schweiz wohl etwas weniger, verlässliche Zahlen gibt es nicht. Aber die besten Chancen haben hier Firmen, die etwas Hochtechnologisches entwickelt haben: Biotech, Medtech, Cleantech. Wydr gehört nicht dazu. Nicht die Technologie hinter der App ist einzigartig. Also muss es die Idee sein. Nur eine Frage ist für Investoren entscheidend: Wollen es die Leute?
Könnte man das Rezept für Erfolg in Büchern nachlesen, müsste Wydr längst durch die Decke gegangen sein. Dörner und Hahn wälzten die Unternehmer-Bibeln „Running Lean“ von Ash Maurya und „The Lean Startup“ von Eric Ries. Sie lernten, dass sie nicht in ihre Lösung verliebt, sondern ab dem ersten Tag den Kunden fragen sollen. Also gingen sie in die Kunstabteilung von Ikea und an die Zürcher Hochschule der Künste. Sie testeten ihre App in Facebook-Gruppen, 46 Mal pro Woche. Die beiden würden sehr professionell vorgehen, sagt Jean-Pierre Vuilleumier, einer der umtriebigsten Startup-Kenner der Schweiz. „Ein sehr gutes Team, das auch coachable ist.“
Mittwoch, 10. Februar. Matthias Dörner am Telefon. „Die Android-App ist draussen.“ 250 Bilder, 480 Downloads, Umsatz Null, organisches Wachstum. „Leicht frustrierend“, sagt Dörner, „wir wissen nicht, warum.”
Vieles spricht dafür, jetzt ein Startup zu gründen. Alle paar Tage findet irgendwo in der Schweiz ein Startup-Anlass statt: Networking-Events, Pitch-Sessions, Webinare. Die Kosten für Web-Projekte sind relativ tief, und das Risiko für gut ausgebildete Leute klein. „Such ich mir einen Job“, ist Dörners Antwort auf die Frage, was er tut, wenn es mit dem Abenteuer Wydr nicht klappt.
Ausserdem ist Innovation im Apple-Zeitalter ein gefragtes Gut. „Jede Grossfirma sollte heute alle zehn Jahre eine disruptive Innovation haben“, sagt ein Unternehmens-Berater. Am einfachsten ist es, in Startup-Scouts zu investieren, um dann die Erfolg versprechendsten Jungfirmen aufzukaufen. Geld ist in der Schweiz genug vorhanden. Szene-Kenner Vuilleumier sagt: „Es gibt mehr Fördergelder als gute Startups.“
Schwierig ist es nur am Anfang. Dörner und Hahn haben die ersten 50 000 Franken selbst eingeschossen. „Friends and Family“, heisst das. Sie hätten auch auf sogenannte „Business Angels“ zugehen können. Deren Strategie ist vergleichbar mit der, beim Roulette auf Zahl zu setzen. Ist eines von zehn Startups das nächste Facebook, macht sie das trotz neun Pleiten reich. Falls das Startup die Gewinnzone ansteuert, steigen sogenannte Early Stage und Growth Investors ein. Ihr Risiko ist tiefer, der Einsatz aber höher: von einer halben Million bis zehn Millionen Franken pro Finanzierungsrunde. Die letzte Stufe ist die Adelung jedes Startups: der Verkauf – der Exit.
Mitte Februar fährt Matthias Dörner nach München. Eigentlich war der Trip nach Deutschland erst eine Woche später geplant, an die „GoGermany“ – einen zweitägigen Event organisiert und gesponsert vom Institut für Jungunternehmen: die Reise nach München im SBB-Extrawagen, 1:1-Expertentrainings im bayrischen Wirtschaftsministerium, Pitch-Session und „High Class Networking-Event“ mit deutschen Investoren und dem Schweizer Generalkonsul. Doch nur 20 Startups durften mitfahren. Wydr war nicht dabei.
Nun geht es eben auf eigene Faust nach München, zur „Spätschicht“, einem Netzwerk-Event ohne Pitch-Sessions, aber mit zwei Gratis-Zwickl-Bier zu den 30 Euro Einlass. Dörner reist mit dem Fernbus, 15 Euro pro Fahrt, er klagt über zu wenig Platz für die Beine.
Neben ihm im Bus sitzt „ein Kumpel“, der sich als Startup-Matcher selbständig gemacht und Dörner den Anlass empfohlen hat. Bezahlt wird er von den Grossfirmen, für die Startups ist seine Beratung gratis. Sein Job sei, die Erwartungen der Grossfirmen zu steuern. „Die Startups versprechen ihnen stets das Blaue vom Himmel.“ Ein Gründer wird das später bestätigen: „Wenn du fünf Millionen brauchst, musst du eine Geschichte haben, die dem Investor klar macht, dass er damit mindestens 250 Millionen verdienen kann.“
Im Bus schaut Dörner kurz die Liste der Teilnehmer durch, die allen Gästen im Voraus zugestellt wurde. „Wen muss ich kennen lernen?“, fragen andere später den Startup-Matcher. Dörner schaut die Liste schnell, fast gelangweilt durch und versucht dann zu schlafen.
Bei der Ankunft in München schmerzen Dörner Beine und Rücken. Bevor die „Spätschicht“ beginnt, ist Schweizer Stammtisch in einem bayrischen Wirtshaus. Dörner sitzt dank dem Vermittler am selben Tisch wie Vertreter von Schweizer Grossfirmen, die ein Auge auf den deutschen Markt werfen. Es gibt Schnitzel, Kartoffelsalat, dazu zwei grosse Helle für alle. Der Matcher offeriert einen Obstler für hinterher.
Um 21 Uhr tingelt die Gruppe zum Anlass ins Burda-Verlagsgebäude. Für Startups gibt es einen gelben, für Investoren einen schwarzen Bändel. Diejenigen der Dienstleister sind weiss.
Drinnen mischt sich alles. Startup-Gründer gehen in Anzug mit Mappe im Raum umher und checken zielstrebig die Farbe der Bändel. Dörner dagegen, wie immer in seinen Nike-Schuhen, postiert sich draussen vor der Türe. Er raucht eine Parisienne Jaune nach der anderen, die Gesprächspartner wechseln.
Das Ganze ist etwas unübersichtlich. Auf der einen Seite Startups wie „Wiesn Bingo“, „KümmerDich“ oder „JobNinja“, auf der anderen der „Head of product development and customer experience“ von Audi oder der „Senior Manager Business Communication“ von Sky Deutschland. Männer mit Bart, Baseball-Kappe und Bomberjacke, die Einbauküchen an deutsche Restaurants verkaufen, treffen hier auf glattrasierte Vertreter einer Schweizer Inkassofirma. Was bringt das? Dörner sagt, er überlege sich während jedes Gesprächs, wie der andere ihm helfen könne und umgekehrt. „Das Produkt ist nicht so entscheidend. Die Abläufe sind bei allen Startups ähnlich.“
„Hohe Hodendichte hier“, sagt einer. Ein anderer fragt, nachdem er die Einladungsliste gescannt hat: „Wo ist die von Playboy?“ Startup-Events sind Männerveranstaltungen. Nur etwa sechs Prozent der Startup-Gründer sind gemäss „Swiss Startup Monitor“ Frauen. Die „Spätschicht“ bildet keine Ausnahme.
Als Dörner draussen die nächste Zigarette raucht, steht plötzlich einer mit schwarzem Bändel in der Runde. Es ist der Investor mit dem blonden Bart, der am Swiss Startup Day auf Dörner zugegangen war. Es geht schon gegen Mitternacht, die meisten haben getrunken und der Typ mit den Einbauküchen textet den Investoren mit einem Small Talk über Uhren voll. Doch Dörner schafft es, ihn kurz beiseite zu nehmen. „Es ist gut, dass ich ihm ein Update geben konnte“, meint er hinterher.
„So früh gehen wir nicht rein.“ So sieht es der Investor. Er glaube zwar, dass es die Marktlücke gebe. Es gebe aber zwei Probleme. Das erste: Wydr habe einen Lehrauftrag, müsse den Kunden erst zeigen, wie man über die App Kunst kaufen kann. Das zweite, grössere: „Sind die Leute bereit, mit einem Knopfdruck am Handy mehrere Tausend Euro auszugeben?“ Das müsse Wydr erst beweisen. Zum Beispiel mit kleinen Tests, etwa, indem sie in einer Stadt mehr Bilder verkaufen als eine dort ansässige Galerie. „Traction“, „Market Pull“ oder „Key Performance Indicators“, nennt man das.
Am nächsten Tag spaziert Dörner durch die Münchner Innenstadt, um etwas durchzulüften. Das hat wohl zum Teil mit dem Verlauf des Abends nach der „Spätschicht“ zu tun, der Flasche Wodka mit Cranberry und Red Bull zu Viert in der 089-Bar.
„Wie wir uns finanzieren, das ist wirklich die Gretchenfrage“, sagt er, während er zwischen zwei Zigaretten einen Berliner verdrückt. „Ende März müssen wir an den Türen kratzen.“ Eine halbe Million hätten sie schon reingesteckt, wenn man die Arbeitszeit mit einrechne. Geld nachlegen wolle er nicht. Wenn es nichts sei, dann sei es nichts. „Ein totes Pferd reiten macht keinen Spass.“
Ende Februar. Dörner ist hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Vernunft. 280 Bilder sind auf Wydr, 520 Downloads, Umsatz Null. Organisches Wachstum.
Seit kurzem zielt Wydr nicht mehr nur auf den deutschsprachigen Raum, sondern auf ganz Europa. Die Programmierer in Belgrad arbeiten an der Künstlerplattform. Und Dörner bereitet den nächsten Pitch im März in St. Gallen vor. „Ich will einfach wissen, ob es funktioniert“, sagt er. Bis im Juni reiche das Geld, möglicherweise auch noch ein kleines bisschen länger.